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Cell Broadcast: Deutschlands bürokratische Verhöhnung des 21. Jahrhunderts




Katastrophenalarm? Dafür gibt es doch Apps! Die reichen nur leider nicht.

Katastrophenalarm? Dafür gibt es doch Apps! Die reichen nur leider nicht.

Foto: Rolf Vennenbernd / dpa



Lassen Sie uns ein kleines Ratespiel zur digitalen Infrastruktur machen. Welches Land unter den zehn reichsten Nationen der Welt hat im Jahr 2021 als einziges weder ein Cell-Broadcast-Warnsystem für Katastrophen, noch plant es konkret die Einführung? Sie haben so viele Rateversuche, wie es Bundeskanzlerinnen in den letzten sechzehn Jahren gab.

Ja, das ist – meine Güte, wieder einmal! – die bittere, deutsche, antidigitale Realität, die in den vergangenen Tagen viele, viele Menschenleben gekostet haben dürfte. Die USA, China, Japan und Kanada haben längst solche handybasierten Warnsysteme, und Indien, Brasilien, Italien, Frankreich und Großbritannien sind dabei, sie umzusetzen.

Cell Broadcast ist nicht gleichbedeutend mit einer Massen-SMS, auch wenn das immer wieder dahingesagt wird. Stattdessen schickt der Netzbetreiber eine bis zu 1395 Zeichen lange Push-Nachricht an alle Geräte, die sich in einer bestimmten Funkzelle befinden. Sie erscheint automatisch auf dem Display und kann sogar Links ins Internet enthalten. Cell Broadcasts werden weltweit im Katastrophenfall eingesetzt, weil sie oft auch dann noch funktionieren, wenn die Netze eigentlich überlastet sind, und weil jede Person, die ein angeschaltetes Handy besitzt (es muss kein Smartphone sein), gewarnt wird.

In Deutschland liest sich der Stand zum Thema Cell Broadcast wie eine bürokratische Verhöhnung des 21. Jahrhunderts. Anfang des Jahrtausends wurde die Technologie hierzulande erst mal abgeschaltet. Weil sie zum Standardinstrumentarium des Mobilfunks weltweit gehört, wären die Funkmasten auch in Deutschland Cell-Broadcast-fähig. Aber hier setzte man statt auf Cell Broadcasts für Katastrophenfälle lieber auf Smartphone-Apps wie »Nina« – obwohl die erstens ein Smartphone, zweitens die Installation und drittens durchaus eine gewisse Sachkunde voraussetzen. Wie wenig wirksam die App-Strategie für flächendeckende Katastrophenwarnungen ist, erkennt man schon an der Zahl der Installationen. Von 2015 bis Mitte 2020 wurde die App rund sieben Millionen Mal installiert. Das sind selbst im Maximalfall weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: 2019 nutzten 58 Millionen Menschen in Deutschland täglich WhatsApp.


Noch dazu haben Fachleute wie der Grünen-Fachpolitiker Malte Spitz immer und immer wieder die Einführung von Cell Broadcasts dringend empfohlen. Zuletzt übrigens zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 sowie nach dem spektakulär vergeigten »Katastrophen-Warntag 2020«, einem groß angelegten, bundesweiten Testlauf für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe im September 2020. Dieser Warntag ging so schief, dass der damalige Chef dieses Amts gefeuert wurde. Unter anderem klappte die Benachrichtigung der Bevölkerung nur schlecht, auch die Nina-App versagte.

Die AG Kritis, eine Arbeitsgemeinschaft engagierter, digital äußerst sachkundiger Bürgerinnen und Bürger, muss man sich als eine Art Chaos Computer Club für sogenannte kritische Infrastrukturen vorstellen, die gebraucht werden, um eine Gesellschaft funktionsfähig zu halten. Nach dem katastrophalen Katastrophen-Warntag schrieb die AG Kritis über Cell Broadcasts: »Es funktioniert technisch in vielen anderen Ländern der Welt einwandfrei, die EU hat entsprechende Weichen mit einer Verordnung gestellt. Gerade dann, wenn die Mobilfunknetze völlig überlastet sind und Daten an Apps wie Nina nicht mehr durchkommen, funktionieren Cell Broadcasts aufgrund der sehr geringen Datenlast noch am wahrscheinlichsten.«


Warum genau also gibt es Cell Broadcast in Deutschland noch immer nicht? Nach gegenwärtigem Recherchestand lässt sich das wie so oft in Fragen des digitalen Versagens nicht mit hundertprozentiger Sicherheit beantworten. Aber die drei wahrscheinlichsten und miteinander verwobenen Antworten sind allesamt niederschmetternd.

Die erste ist die vielleicht bitterste und unverschämteste für ein so reiches Land wie Deutschland. Es handele sich bei Cell Broadcast, Zitat vom Chef des zuständigen Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, um eine »extrem teure Technik«. Nämlich, bitte festhalten: 20 bis 40 Millionen Euro. Angesichts der Menschenleben, aber auch angesichts der Tatsache, dass frühere Information meist geringeren Schaden bedeutet, ist dieses »extrem teuer« eine Bizarro-Farce. Wieder einmal wäre also eine digitale Infrastruktur daran gescheitert, dass sich Deutschland unter Merkel kollektiv einbildete, die Zukunft herbeisparen zu können.


Die zweite Antwort entspricht der digital-politischen Zumutung, die man schon während der Pandemie aus der ersten Reihe beobachten konnte. Tatsächlich ist es in Deutschland verboten, Menschen ohne ihre vorherige Zustimmung Botschaften zu senden. Daher hätte es eine Verordnung geben müssen. Dafür aber fehlte laut Bundesknallminister Andreas Scheuer bisher »der politische Wille an mancher Stelle«. Die kryptische Formulierung soll natürlich Unionskollegen schützen, aber lässt sich leicht auflösen. Die Zuständigkeit für die notwendigen, an die Telekommunikationsunternehmen gerichteten Gesetzesgrundlagen liegt beim Wirtschaftsministerium. So etwas aber vorzuschreiben, sagte ein Insider schon im März 2020 zum Thema Cell Broadcast in der Coronapandemie, entspreche nicht der »Philosophie des Wirtschaftsministeriums«.

Die dritte Antwort gehört bei den meisten Problemen des Landes in die erste Reihe der Begründungen. Es handelt sich um die deutsche Amtshybris, alles besser zu wissen als alle anderen. Im Zweifel übrigens auch besser als die eigene Bevölkerung. Als durch die Flut in Nordrhein-Westfalen viele Menschen zu Tode kamen, behauptete Innenminister Reul, nicht etwa der Staat mit seiner am Warntag 2020 bewiesenen mangelhaften Informationstechnik trage die Verantwortung. Nein, die stumpfen Leute dort draußen hätten es zwar alle gewusst mit dem Starkregen – aber die Warnungen nicht ernst genommen. Selbst schuld also, laut Reul.

Die EU hatte ein verbindliches Warnsystem per Cell Broadcast bis 2022 einführen wollen. Deutschland aber drängte auf eine Ausnahme und bekam sie. EU-Staaten können festlegen, dass ihre eigenen Warnsysteme so gut seien wie Cell Broadcasts. Konkret erklärte die Bundesregierung offenbar ernsthaft, mit Apps, Durchsagen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Sirenen ähnlich effektiv zu sein wie Cell Broadcasts. Ist diese Behauptung noch Hybris oder schon grob fahrlässige Inkaufnahme von Toten?

Machen wir die Gegenprobe. Im Juni 2020 veranstaltete die niederländische Regierung einen Katastrophentest per Cell Broadcast. Sie erreichte mehr als 90 Prozent der Bevölkerung.

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