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Gastkommentar: Das sind die drei großen Aufgaben für Europa

Keine Frage: Die Covid-19-Pandemie hat der Digitalisierung einen enormen Schub gegeben. Schon im November 2020 ergab eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom, dass „für acht von zehn deutschen Unternehmen die Digitalisierung an Bedeutung gewonnen hat“.

Besorgniserregend aber ist gleichzeitig die stark zunehmende Verbreitung von Falschinformationen in den sozialen Medien, wie sie beispielsweise der jüngst veröffentlichte Reuters Institute Digital News Report belegt. Damit setzt sich eine jahrelange, bedenkliche Entwicklung fort.

Pressefreiheit, freie Meinungsäußerung, öffentliche Debatte und klare Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion sind das Fundament einer jeden Demokratie. Wie können wir verhindern, dass kommerzielle Anwendungen digitaler Technologien die Demokratie untergraben? Es wäre naiv zu glauben, dass diese Gefahr nicht besteht. Was also ist zu tun, um das Vertrauen in die Demokratie wieder zu stärken?


Das sind existenzielle Fragen für unsere Gesellschaft – die Europa aber zugleich die Chance eröffnen, in der zweiten, industriellen Welle der Digitalisierung eine führende Rolle zu spielen. Damit dies gelingt, müssen Politik und Wirtschaft in Europa drei große Aufgaben angehen.


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Soziale Medien werden in der Regel „kostenlos“ über IT-Plattformen angeboten. Ihre Nutzer zahlen dennoch einen Preis: Sie geben ihre persönlichen Daten preis und sind bereit, die Werbung zu dulden, mit denen die Plattformbetreiber ihre Erträge erzielen. Die Wettbewerbskommissarin der Europäischen Kommission, Margrethe Vestager, sagte dazu treffend: „Wenn Sie ‚kostenlose‘ Dienste nutzen, bei denen Sie personenbezogene Daten weitergeben, bezahlen Sie nicht mit Geld, sondern ‚mit Ihrem Leben‘.“

Je mehr „Likes“, desto besser für die Betreiber

Dieses Geschäftsmodell ist nicht nur aus Sicht des Einzelnen bedenklich; es birgt auch Risiken für die Gesellschaft. Weil der Umsatz an die Zahl der Interaktionen und Nutzer gekoppelt ist, werden die Algorithmen programmiert, um Nutzer zu mehr Interaktionen zu animieren. Je mehr „Likes“, „Shares“, „Retweets“ und Kommentare, desto besser für den Betreiber.

Inhalte, die starke Emotionen wie Angst, Wut und Hass auslösen oder extrem, schockierend oder unwahr sind, verbreiten sich erwiesenermaßen in den sozialen Medien besonders schnell. Damit verdrängen die „Wahrheiten“ einer lauten Minderheit die der stillen Mehrheit. Und so wird das Geschäftsmodell „kostenlos“ zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem.

Die Risiken dieses Geschäftsmodells zu minimieren ist die erste große Aufgabe für Europa. Denn wir brauchen Vertrauen in Technologie, wenn wir Herausforderungen wie die Pandemie oder den Klimawandel bewältigen wollen.

IT-Plattformen gehören zu den mächtigsten Werkzeugen, die je erschaffen wurden. Sie geben Milliarden von Menschen Zugang zu einer fast unermesslichen Vielfalt an Informationen, Dienstleistungen und Lösungen. Die Regulierung dieser Plattformen kommt bislang in zwei extremen Varianten daher: Laisser-faire oder strenge staatliche Kontrolle.

Schnittstellen bringen Innovation voran

Paradoxerweise führen beide Varianten zum selben Ergebnis: zu Mega-Plattformen, die nach dem „Gatekeeper“-Modell Daten nur zu eigenen Bedingungen teilen, und demzufolge Geld und Macht akkumulieren. Wie wäre es mit einer dritten, europäischen Variante, die auf Offenheit, Interoperabilität, Sicherheit und gemeinsame Datennutzung setzt?

Das würde den Aufbau dezentraler Innovationsnetzwerke fördern, für eine gerechtere Verteilung der wirtschaftlichen Vorteile sorgen und gleichzeitig zu mehr gesellschaftlichem Nutzen führen.

Ein Modell für diese Variante im industriellen Bereich liegt mit Gaia-X bereits vor. Ziel dieser Initiative ist es, das „Gatekeeper“-Modell zu ersetzen und allen Beteiligten die Möglichkeit zu bieten, Daten sicher zu nutzen und auszutauschen. Gängige Praxis in der Softwareentwicklung zeigt, dass offene Plattformen und Schnittstellen Innovation voranbringen – und zwar für viele, nicht nur für wenige.

Europa hat mit seiner starken industriellen Tradition, seiner Expertise in Industrie 4.0 und seiner Kompetenz im Bereich Infrastruktur jetzt die Chance, Vorreiter in der zweiten Welle der Digitalisierung zu sein – der industriellen Digitalisierung, einer Welle, die weitaus umfassender sein wird als die im Consumer-Markt.

Die zweite große Aufgabe für Europa ist es also, um den Soziologen Harald Welzer zu zitieren, „sich unabhängig zu machen von einer total monopolistischen und auf Kommerz abgestellten Sphäre“ und „europäische Programme und Netzwerke und entsprechende autarke Infrastrukturen“ zu schaffen.

KI wird bisher kaum hinterfragt

Künstliche Intelligenz (KI) ist schon längst keine praxisferne Spielerei mehr. Sie kommt in fast jedem Lebensbereich und in jeder Branche zum Einsatz. So schlägt sie etwa auf Streamingplattformen Filme und beim Onlineeinkauf Produkte vor. Bisher wird das kaum hinterfragt, obwohl KI schon jetzt weitreichende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat.

Das verdeutlicht der Einsatz von KI im Gesundheitswesen. Nichts ist persönlicher als die eigene Gesundheit. Gleichzeitig aber hat die Nutzung großer Mengen an Patientendaten durch KI kaum zu unterschätzende Potenziale. Das hat die Pandemie gezeigt, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Bericht Ethics and Governance of Artificial Intelligence for Health bilanziert.

Demnach hat KI das Potenzial, die Patientenversorgung, die Diagnose und Behandlung von Krankheiten im Fall einer Pandemie zu verbessern und den Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Außerdem können Patienten ihre eigene Gesundheit mit KI besser kontrollieren.

Weil das Gemeinwohl sorgfältig gegen den Schutz der Privatsphäre abgewogen werden muss, sollte die europäische Politik klare ethische Richtlinien für die Nutzung von KI im Gesundheitswesen erarbeiten. Der WHO-Bericht kann hierfür als Vorlage dienen.

Die dritte große Aufgabe ist es somit, für mehr Transparenz zu sorgen – gerade vor dem Hintergrund der rasanten Weiterentwicklung dieser Technologie. Wo, wann und wie kommt KI zum Einsatz? Diese Aufgabe kann die Politik nicht allein bewältigen. Dafür ist die Innovationsgeschwindigkeit zu hoch.

Hier ist vor allem die Unterstützung der Menschen erforderlich, die digitale Technologien entwickeln und vermarkten. Nur sie können unsere gesellschaftlichen Werte – und nicht nur wirtschaftliche Interessen – in die Software einprogrammieren.

Wenn es uns gelingt, diese drei großen Aufgaben zu lösen, also verantwortungsvoll mit digitalen Technologien umzugehen, dann schaffen wir Vertrauen. Dann können wir mit sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Innovationen für das Gesundheitswesen, die Industrie und Infrastruktur die industrielle Digitalisierung zu einer europäischen Erfolgsgeschichte machen. Noch haben wir die Chance, sie zu gestalten. Wir müssen es nur wollen – und vor allem tun.

Der Autor: Jim Hagemann Snabe ist Co-Vorsitzender des Global Technology Governance Summit 2021 und Vorsitzender des Siemens-Aufsichtsrats.

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